Ihre Anzeige in der Stuttgarter Zeitung zum Thema „Was denken Eltern zur Bildungspolitik?“ habe ich mit großem Interesse gelesen und kann Ihnen nur voll und ganz zustimmen. Nach 42 Dienstjahren an Realschulen gehe ich mit einem weinenden und einem lachenden Auge im Sommer in den Ruhestand. Ich bin immer ausgesprochen gern Lehrer gewesen und jeden Tag mit Freude zur Schule gegangen, und ich habe es als eine Art Privileg angesehen, mit Kindern arbeiten zu dürfen. Für meine Arbeit habe ich unzählige positive Rückmeldungen erhalten. Uns Lehrern liegen die Kinder und unsere Zukunft am Herzen, nicht irgendwelche Methoden, didaktischen Programme oder gar Ideologien. Der Lehrer als Bezugsperson ist heute wichtiger denn je. Wir sind nicht nur Lehrende, sondern immer häufiger Ansprechpartner, Begleiter und Sozialarbeiter. Kinder lernen gerne – manchmal, weil sie es für ihren Lehrer tun möchten - sie lernen mit Freude, wenn die Atmosphäre im Klassenzimmer stimmt, wenn der Lehrer Vorbild sein darf und wenn sie sich auch mal an ihm reiben können. Selbstverantwortliches Lernen gelingt eben vielen Kinder nicht. Sie brauchen eine Begleitung, Anleitung oder Stütze und ein Lehrer nimmt dabei immer Rücksicht auf den persönlichen Lernstand und die persönlichen Begabungen, soweit ihm die Zeit dazu eingeräumt wird. Die Klassengemeinschaft und die Arbeit zusammen mit einer Bezugsperson spielt im Leben von Kindern auf dem Weg zum Erwachsenwerden eine große Rolle. Bei Klassentreffen wird mir das immer auch so bestätigt. (“Wissen Sie noch, wie wir damals zusammen ...).
Die derzeitige Bildungspolitik ist in meinen Augen „eine einzige Katastrophe“, wie ich das in 42 Jahren nicht erlebt habe. Es gibt durchaus gute Ansätze. Aber gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Der Alltag spricht eine andere Sprache als die Theorie. Die von ihren „Erfindern“ so hoch gelobte Gemeinschaftsschule ist eine Mogelpackung, die ich gerne mit der „Kinderschokolade“ vergleiche: Man verspricht die extra Portion Milch und liefert aber die extra Portion ungesunden Zucker. Wenn viele Gemeinden auf diesen Zug aufspringen, dann nicht aus tiefer Überzeugung, sondern aus Angst um ihren Schulstandort. Es gibt leider Gemeinderäte – auch im kleinsten Ort – die im Ernst daran glauben, dass hier plötzlich ihre Kinder das Abitur machen werden. Hier geht es nicht um die Kinder, sondern um Ideologien. Mit Unbehagen denke ich an meine ersten Dienstjahre und an mein Studium zurück, als man uns die „Mengenlehre“ als allein seligmachende Methode verkauft (untergejubelt) hat. Die hat sich nur so lange gehalten, bis auch der letzte Mohikaner kapiert hat, dass diese Methode ihre Grenzen und Fehler hat. Eben deshalb, weil man sie als Allheilmittel angesehen hat und keine anderen Götter neben ihr geduldet wurden. Zum Glück gab es – und die gibt es heute noch – genügend Lehrer mit gesundem Menschenverstand, die in solchen Zeiten den Ball flach gehalten und mit pädagogischen Gespür und mit Vernunft mit den Kindern gearbeitet haben.
Kollegen an Gemeinschaftsschulen äußern deutliche Kritik an diesem System. Die Schere geht noch weiter auseinander als zuvor. Kinder, die nicht selbst organisiert sind hängen völlig ab und verpassen den Anschluss. Leider wird das nur hinter vorgehaltener Hand gesagt aus Angst um den Arbeitsplatz. Und die vielen positiven Rückmeldungen von denen man in der Presse liest kommen meist von Schulleitungen, die ihrer Schule natürlich gern ein gutes Zeugnis ausstellen möchten. Natürlich gibt es Standorte in großen Städten, wo tatsächlich gute Erfolge erzielt werden – oft eben über Kooperation an Schulzentren.
Die Basics (Lesen, Schreiben, Rechnen) sind heute wichtiger denn je. Sie sind Grundlage und Nährboden für erfolgreiches – auch selbstständiges - Arbeiten in der Schule. Sie wirken der viel zitierten „medialen Demenz“ auch bestens entgegen. Der so hoch gelobte Computer macht nur dann Sinn im Unterricht, wenn man gewinnbringend damit umgehen kann. Wer einen Text im Buch nicht versteht, dem nützen die unendlich vielen Informationen aus dem Internet absolut nichts. Also müssen wir zuerst lesen lernen. Viele Kinder erzielen schlechte Ergebnisse in Mathematikarbeit oder anderen Fächern, weil sie die Aufgabenstellung nicht verstehen. Sie lesen einen Text, ohne zu wissen, was da drin steht. Die Grundschulen sind hier gefordert. Aber es ist ja so modern und angeblich lebenswichtig, dass Kinder stattdessen schon in der Grundschule Präsentationen (oft von den Eltern in mühsamer Extra-Zeit ausgearbeitet) halten. Alles für den Fall, dass sie später mal eine Führungsposition anstreben.
Leider sind heutzutage viele Eltern zu „Nachhilfelehrern der Nation“ geworden. Und die boomenden Nachhilfeinstitute sprechen eine deutliche Sprache. Vor der Nachhilfe kommt Selbsthilfe! Und dazu müssen wir in der Schule zuerst die nötige Zeit für die Schüler bekommen, damit es erst gar nicht so weit kommt. Zeit für die Kinder ist mehr wert als all die kommerziellen Lernhilfen oder Materialien oder die hochgelobten Allheiltheorien.
In den Realschulen wird unendlich viel kostbare Zeit mit unzähligen Prüfungsverfahren vor allem in Klasse 9 und 10 vergeudet (GFS, FIP, FÜK, Eurokom ...) Schüler kommen in die Schule um Prüfungen abzulegen, nicht mehr um zu lernen.
Gerne denke ich an meine eigene Schulzeit in der Volksschule zurück, bevor ich nach Klasse 7 auf ein Aufbaugymnasium (Internat) wechseln durfte. Die Lehrer und die Mitschüler waren Garant für einen erfolgreichen Schulabschluss. Hier wurde man zum eigenständigen Lernen und zur Teamarbeit erzogen.
Wenn die Zahl der Kinder nun abnimmt, dann müssen wir wohl zu einem Zwei-Säulen-System zurückkommen: Volksschule und Gymnasium mit allen Möglichkeiten von Übergängen.
Es ist nun leider zu befürchten, dass sich mit der neuen Koalition nicht viel bewegen wird. Machtspielchen sind kontraproduktiv. Anstatt den Mund aufzumachen, hängt man sein Fähnchen lieber nach dem Wind der gerade weht.
Ihren Aufruf unterschreibe ich als Lehrer sehr gerne. Unsere Kinder hatten das Glück, Ende der 80er/ Anfang der 90er Jahre zu einer Zeit in die Schule gehen zu dürfen, als „die Schulwelt noch in Ordnung“ war. Sie stehen mit beiden Beinen erfolgreich im Beruf und können nur noch mit dem Kopf schütteln, wenn sie mitbekommen, wohin die Reise geht.
Freundliche Grüße
W. D.